Ein wichtiger Entwicklungsprozess für Ihr Kind – Fremdeln, was ist das eigentlich? Ein kleines Kind, das gestern noch lachend in Ihr Gesicht blickte, klammert sich heute an die Mama und weint beim Anblick der grüßenden Nachbarin. Das ist kein Grund zur Sorge, denn das Kind erlebt gerade einen enormen Entwicklungsschritt: Es lernt, zu differenzieren, zwischen «vertraut» und «fremd» zu unterscheiden.
Ab wann fremdeln Kinder?
Dieses Phänomen tritt bei einigen Kindern quasi über Nacht auf, oft um den achten Lebensmonat herum. Das Gehirn entwickelt sich und alles wirkt auf einmal ganz anders als bisher. Sie erleben die Umgebung auf eine neue Art und Weise, was sie zunächst verunsichern kann.
In der Regel ist ein Elternteil die vertrautere Person, häufig die Mutter, zu der die engste Bindung besteht. Sie vermittelt zwischen all den Eindrücken Geborgenheit. Deshalb klammern sich viele kleine Kinder beim Anblick anderer Menschen an sie und suchen Schutz.
Es lässt sich nicht vorhersagen, in welchem Alter genau Kinder zu fremdeln beginnen, das hängt mit der individuellen Entwicklung zusammen. Auch reagieren Kinder in dieser Phase unterschiedlich stark.
Die Fähigkeiten erweitern sich
Babys nehmen Menschen und die Umgebung zunächst über Sinneseindrücke wahr. Sie wissen, wie sich die Bezugsperson anfühlt, kennen ihren Geruch, ihre Berührungen, ihr Gesicht und ihre Stimme. Auf einmal stellen sie fest, dass andere Menschen anders aussehen und sprechen.
Was nicht in das vertraute Muster passt, wird als fremd erkannt, daher der Begriff «fremdeln». Nun weiß das Kind nicht, wie es damit umgehen soll, und sucht den Schutz des Vertrauten. Mit der Zeit gewöhnt es sich an diese neue Art, die Umgebung und andere Menschen zu erleben und wird wieder sicherer. Somit ist das Fremdeln ein wichtiger Schritt zur Selbstständigkeit.
Intensität unterscheidet sich
Manche Kinder sind in dieser Phase einfach nur etwas zurückhaltender als üblich und betrachten ihr Gegenüber skeptisch oder versteifen sich, andere weinen verzweifelt. Einige reagieren bereits unsicher, wenn sie einen – eigentlich bekannten – Verwandten nur sehen, wieder andere ertragen mehr «Nähe». Ebenso unterscheidet sich die Dauer der Phase.
Das liegt unter anderem daran, dass Babys je nach Temperament unterschiedlich mit Gefühlen und neuen Erfahrungen umgehen. Oft kommen auch Kinder, die schon früh viele Kontakte zu den unterschiedlichsten Menschen hatten, in dieser Zeit besser zurecht.
Es ist übrigens nicht vorhersehbar, auf wen Ihr Kind in dieser Zeit mit Ablehnung reagiert. Das können durchaus vertraute Menschen wie der Papa sein, dem die Nähe der Mutter vorgezogen wird. Das bedeutet nicht, dass es tatsächlich Angst vor einer Person hätte – es stellt einfach Unterschiede fest und weiß noch nicht damit umzugehen. Selbstverständlich kann es auch vorkommen, dass es nicht die Mutter, sondern den Vater als Bezugsperson wählt.
Trost und Distanz
Ersparen können Sie sich und Ihrem Kind diesen Entwicklungsschritt nicht, aber Sie können ihm helfen. Es braucht vor allem Ihre Nähe und Ihren Trost, wenn es verunsichert reagiert. Nehmen Sie es auf den Arm und beruhigen Sie es, das vermittelt ihm Sicherheit.
Andere Menschen können Sie bitten, etwas auf Distanz zu bleiben. Sie sollten Ihr Kind nicht bedrängen, wenn es das offensichtlich nicht möchte. Erklären Sie ihnen, dass Ihr Kind das nicht persönlich meint. Natürlich soll es auch weiterhin Erfahrungen mit weniger vertrauten Menschen machen, nur eben selbst entscheiden dürfen, wie viel Nähe es zulässt.
Weniger hilfreich ist es, das Kind einer Person, auf die es mit Ablehnung reagiert, in den Arm zu geben. Das verstärkt seine Unsicherheit eher, als dass es feststellen würde, von dieser Person geht keine Gefahr aus. Auch eine Bestrafung wäre kontraproduktiv – die Unsicherheit Ihres Kindes ist ernst und es benötigt Sie sprichwörtlich als sicheren Hafen.
Mag es bisweilen anstrengend sein, wenn Ihr Kind in den unterschiedlichsten Situationen Ihre Nähe sucht und sich an Sie klammert, Sie können stolz sein: Es hat Sie als seine vertrauteste Person auserwählt. Das Lächeln, das es Ihnen schenkt, ist ebenso echt wie das Misstrauen, mit dem es auf andere Menschen reagiert.
Geduld: Neugier siegt
Genauso, wie das Fremdeln beginnt, legt es sich nach einiger Zeit wieder. Das kann einige Wochen, aber auch mehrere Monate bis Jahre dauern. Irgendwann werden verstohlene Blicke in Richtung des zuvor noch abgelehnten Menschen riskiert, vielleicht schleicht sich sogar ein vorsichtiges Lächeln in das Gesicht. Ihr Kind benötigt dann immer weniger den Schutz seiner Vertrauensperson und lernt, offener mit der Umwelt zu interagieren.
Fremdeln ist also normal, denn die Wahrnehmung Ihres Kindes ändert sich und es lernt, Bekanntem zu vertrauen und Fremdem mit einem gesunden Misstrauen zu begegnen.
© Samuel Borges – Fotolia.com
- Fremdeln ist ein wichtiger Entwicklungsschritt. Mit diesem Wissen kann manche Situation besser gemeistert werden
- Fühlt sich Ihr Kind auf Ihrem Arm sicher, wird es auch auf sein Gegenüber neugierig sein
- Die Bezugsperson fungiert als sicherer Hafen, von dem aus Ihr Kind die Welt erkundet und zwischen fremd und bekannt unterscheiden lernt
Dieser Artikel wurde von unserem Expertenteam geprüft.