Kinder fühlen sich von Natur aus magisch von Bordsteinen, Mauern und umgefallenen Bäumen angezogen. Beim Balancieren möchten sie ihre Grenzen erfahren. Ganz nebenbei trainieren sie ihren Gleichgewichtssinn, oder wissenschaftlich: ihre vestibuläre Wahrnehmung.
Das vestibuläre System gibt uns Informationen über Bewegung und die Position unseres Kopfes und spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Gleichgewicht, Koordination, Augenkontrolle und Aufmerksamkeit. Es ist sowohl für Orientierung im Raum als auch für die Aufrechterhaltung des Körpers zuständig und hilft uns dabei, uns gegen die Schwerkraft zu bewegen und uns dabei zuverlässig und sicher zu fühlen. Gerade sehr kleinen Kindern ist das Gefühl der Sicherheit ganz wichtig. Bei Bedarf suchen sie deshalb die stützende Hand einer erwachsenen Bezugsperson.
Hierbei erwähnenswert ist, dass die vestibuläre Wahrnehmung nicht alleinig für ein gutes Gleichgewicht zuständig ist. Wie bei den meisten Sinneswahrnehmungen, spielen all unsere Sinne eine Rolle. Wenn es um das Gleichgewicht geht, arbeitet das vestibuläre System sehr eng mit dem propriozeptiven System (Tiefensensibilität) zusammen und nur das einwandfreie Zusammenspiel beider Sinne garantiert uns ein sicheres Gleichgewicht.
Der Gleichgewichtssinn entwickelt sich bereits während der Schwangerschaft
Der Gleichgewichtssinn, auch vestibuläre Wahrnehmung genannt, setzt sich aus mehreren Einzelkomponenten zusammen: Der visuellen Wahrnehmung, der Tiefensensibilität (Propriozeption) und der vestibulären Wahrnehmung, die Auskunft über Schwerkraft, Lageveränderungen und Beschleunigung gibt. Das Gleichgewichtsorgan (vestibulärer Apparat) befindet sich im Innenohr und leitet Informationen an das Gehirn weiter, die dann widerrum an die Muskeln und Augen weitervermittelt werden. So können wir uns gegen die Schwerkraft aufrichten, das Gleichgewicht halten und uns im Raum orientieren. Geben die Sinne widersprüchliche Informationen an das Gehirn weiter, wie zum Beispiel Lesen beim Autofahren, so kann dies zu Schwindel und Übelkeit führen.
Forscher sind sich einig: Die Entwicklung des vestibulären Systems beginnt bereits in der neunten Schwangerschaftswoche und ist bis zum fünften Monat ausgebildet. Deshalb ist es wichtig, dass sich die werdende Mutter im Rahmen ihrer Möglichkeiten möglichst viel bewegt. Lageveränderungen des Bauches übertragen sich auf das ungeborene Kind und stimulieren sein Gleichgewichtsorgan im Innenohr. Der Fötus stimuliert seinen eigenen Gleichgewichtssinn durch das Strampeln im Mutterleib.
Auch Neugeborene sollten daher möglichst unterschiedliche Bewegungsreize erhalten, indem sie in der Wiege, in der Hängematte oder mit der Mutter gemeinsam im Schaukelstuhl schaukeln. Auch kleine Übungen, wie etwa das Baby hochzunehmen, um es frei im Raum zu halten, sind bestens geeignet, den Gleichgewichtssinn des Kindes möglichst früh zu fördern.
Viel Bewegung fördert bei Kindern den Gleichgewichtssinn
Hüpfen, Schaukeln, Rollen, Balancieren, Gleiten
Wer Kinder beim Spielen beobachtet, wird schnell feststellen, dass sie sich selbst viele vestibuläre, also das Gleichgewicht ansprechende Reize suchen.
Sie drehen sich förmlich in der Welt, bis sie einen «Drehwurm» haben, schaukeln hoch hinaus und alles was federt, wie Matratzen oder Sofas wird kurzerhand zum Trampolin umfunktioniert.
Ständig sind Kinder damit beschäftigt, bezüglich ihrer Motorik und Koordination nach neuen Herausforderungen zu suchen.
Eltern können sie darin aktiv unterstützen, indem sie den Kindern genügend Bewegungsfreiheit lassen sowie geeignetes Spielzeug und Spielideen anbieten. Hier einige Anregungen:
Ideen für die Kleinsten
Bereits mit acht bis zwölf Monaten sind Babys von Rutschfahrzeugen und -tieren begeistert. Später lernen sie mit dem Laufrad, ihre Bewegungen noch besser zu koordinieren und die meisten sind innerhalb kürzester Zeit wahre Meister in der Nutzung dieser wertvollen Spielzeuge.
Sie können aber auch selbstgemachtes Bällchenbad herstellen, indem ein aufblasbares Planschbecken mit kleinen, leichten Plastikbällen gefüllt wird.
Darin dann das Kleinkind unter Beaufsichtigung spielen lassen. Oder alternativ einen Bettbezug mit Plastikbällen gefüllt auf den Boden legen und das Kleine drüberkrabbeln lassen.
Eine Babyschaukel im Türrahmen zu besfestigen oder eine Hängematte ca. 30 cm über dem Boden aufzuhängen und als Sicherheit eine weiche Matte darunter zu legen, sind ebenfalls gut geeignete Maßnahmen, um schon bei den Kleinen das vestibuläre System anzuregen.
Trampolin springen
Die instabile Fläche des Trampolins fordert beim Hüpfen die Kontrolle des Gleichgewichtsinns permanent heraus. Zusätzlich trainiert das Kind die Reaktionsfähigkeit und stärkt seine Muskulatur.
Ermutigen Sie Ihr Kind, als „Grashüpfer“ verschiedene Sprungvarianten auf dem Trampolin oder von einem Minitrampolin auf eine Matte auszuführen.
Achten Sie beim Kauf eines Trampolins auf eine gute Federung (dem Gewicht Ihres Kindes entsprechend) sowie auf notwendige Sicherheitsvorkehrungen, wie zum Beispiel ein Netz bei größeren Trampolinen.
Hindernisparcours
Hierbei ist besonders das Laufen auf unterschiedlichem Untergrund hilfreich sowie das Balancieren auf verschiedenen Gerätschaften. Auch das drüber- und drunterklettern, durch einen Tunnel krabbeln und über eine Matte rollen, fördert den Gleichgewichtssinn.
Spiele regen ebenfalls das Gleichgewicht an
Stelzenlaufen und Balancieren
Spiele, wie Blinde Kuh, Gummitwist, Himmel und Hölle und Eierlaufen können den Gleichgewichtssinn trainieren. Aber auch Holzstelzen, Topfstelzen oder Laufdosen aus Kunststoff sind bei Kindern sehr beliebt. Hier ist schon ein wenig Übung notwendig, um das Gleichgewicht wirklich sicher zu halten und somit auf den Stelzen vorwärts zu kommen.
Kleine Mädchen lieben «Seiltanzen» auf einem am Boden liegenden Seil. Auch Bordsteine oder Baumstämme eignen sich prima zum Balancieren. Dabei dürfen die Eltern ihr Kind ruhig einmal ermutigen, ein Stück rückwärts zu laufen. Das schult den Gleichgewichtssinn besonders.
Auch das Stehen auf einem Bein eignet sich zur Schulung des Gleichgewichts. In der „Flamingoschule“ werden die Kinder angeregt, 30 Sekunden lang auf unterschiedlichen Untergründen auf einem Bein zu balancieren. Noch anspruchsvoller wird es, wenn die Kinder dabei zusätzlich Bälle in verschiedenen Größen, Formen und Gewichten fangen und werfen.
Auch „Linienkämpfe“ kommen gut an. Hierbei stehen sich zwei Kinder (oder Sie mit Ihrem Kind) auf einer auf dem Boden mit Klebeband markierten Linie gegenüber. Durch Drücken der Handflächen gegeneinander versuchen sie nun, den anderen aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Da das vestibuläre System auch Drehbewegungen wahrnimmt und verarbeitet, ist das Training dieser ebenfalls sinnvoll. So können Kinder dazu angeregt werden, Pirouetten zu vollführen oder sich als „Kreisel“ um verschiedene Körperachsen zu drehen. Auf dem Spielplatz helfen dabei sämtliche Karussells oder andere Drehspiele (zum Beispiel „Spinner Bowl“, „Multi-Spinner“ oder „Super Nova“).
Spielplätze sind per se bestens zur vestibulären Anregung ausgestattet, denn außer kreiselnden Geräten gibt es auch noch Wippen, Rutschen, Schaukeln und diverse Klettergeräte. Auch ein Besuch im Wald ist empfehlenswert: An Ästen schaukeln, über Baumstämme balancieren, auf Bäume klettern oder einen kleinen Hügel herunterpurzeln und schon werden alle Sinne gleichzeitig stimuliert.
Für Kinder ab vier Jahren bieten sich zum Fordern und Fördern des Gleichgewichts folgende Sportarten an:
- Tanzen
- Reiten
- Schlittschuhlaufen
- Skilaufen
- Fahrrad und Einrad fahren
- Judo
- Rollschuhlaufen, Inlineskaten
- Turnen / Kindergymnastik
- Kinderyoga
- Klettern in der Kletterhalle
Tipp: Wenn Ihr Kind die Herausforderung gemeistert hat und etwas perfekt beherrscht, darf der Schwierigkeitsgrad ruhig ein wenig steigen. Ein Beispiel hierfür wäre der Wechsel vom auf dem Boden liegenden Seil zur Slackline. So lernt das Kind immer etwas Neues hinzu und das Gleichgewicht kann sich, ebenso wie die Koordination und Motorik noch besser entwickeln. Wichtig ist aber auch, dass Sie Ihr Kind dort in seiner jeweiligen Entwicklungsphase abholen, wo es ist und es zwar fördern aber es nicht überfordern. Dies gilt besonders, wenn ein Kind etwas ängstlich ist in Bezug auf Bewegungsabläuf, die Balance vorraussetzen.
Mein Kind hat Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht – was tun?
Im Laufe der Entwicklung vom Baby zum Kleinkind steigen auch die Erwartungen an Koordination und Gleichgewicht. Falls ein Kind besonders unsicher ist, wird das mit etwas vier Jahren deutlich. Was den Gleichgewichtssinn angeht, so kann sowohl eine Über- als auch eine Unterempfindlichkeit festgestellt werden. Ist ein Kind vestibulären Reizen gegenüber überempfindlich, so kann sich dies durch schnellen Schwindel, aber auch in sehr zögerlichen Bewegungen äussern. Besonders auf instabilen Untergründen (Sand, Wiese) fällt es diesem Kind schwer, sein Gleichgewicht zu halten und es fällt oft ohne ersichtlichen Grund.
Bei einer Unterempfindlichkeit kann es sein, dass das Kind nie genug bekommt: es dreht sich pausenlos im Kreis, springt endlos auf dem Trampolin und macht Purzelbäume wo es nur kann, ohne dass ihm jemals schwindelig wird. Sobald Eltern das Bewegungsverhalten Ihres Kindes auffällig vorkommt, sollten Sie einen Kinderarzt aufsuchen. Hat sich das Gleichgewichtsorgan des Kindes nicht ordnungsgemäß entwickelt, benötigt der kleine Patient dann möglicherweise Unterstützung von einem Ergotherapeuten oder Physiotherapeuten.
© ehrenberg-bilder – Fotolia.com
Fazit
- Der Gleichgewichtssinn setzt sich aus dem visuellen Sinn, dem vestibulären Sinn und der Tiefensensibilität zusammen und entwickelt sich bereits in der 9. Schwangerschaftswoche
- Spielen und Toben fördern den Gleichgewichtssinn und die Koordination. Hierfür benötigen Kinder ausreichend Bewegungsfreiheit und geeignete Übungsmöglichkeiten
- Ist der Gleichgewichtssinn nicht gut entwickelt, so kann es sein, dass ein Kind Probleme mit oder wenig Spass an der Bewegung hat oder sich in übermäßigem Masse bewegt und sich nicht gut auf eine Sache konzentrieren kann
- Bei mutmasslichen Problemen mit dem Gleichgewichtssinn, sollte dies mit dem Kinderarzt besprochen werden, der gegebenenfalls an einen Physio- oder Ergotherapeuten überweisen wird